«Nächstenliebe ins Bundeshaus» war das Thema einer Tagung des Forums ChristNet-Forums vom vergangenen Samstag. Im Vorfeld der nationalen Wahlen äusserten sich der Theologe Lukas Gerber, Hilfswerk-Mitgründer Christian Schneider und der Solothurner Alt SP-Nationalrat Philipp Hadorn dazu aus ihrer Perspektive.
18. September 2023 – «Gehen Politik und Bibel zusammen?», fragte der Theologe und Doktorand Lukas Gerber. Dazu beleuchtete er Aussagen des Neuen Testaments und die vom Theologen Karl Barth aufgeführten unterschiedlichen Aufgaben der Christengemeinde und der Bürgergemeinde: In Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter gab die Betroffenheit den Ausschlag zur tätigen Nächstenliebe. In der Agenda von Jesus waren die politischen Ungerechtigkeiten Roms kaum ein Thema, doch er hatte die Ausgegrenzten im Blick, seine Reden und Taten waren hochpolitisch und die Systemverantwortlichen fürchteten ihn. «Bis heute fürchten sich gerade autoritäre Regimes vor dem Kontrollverlust durch das Christentum», so Gerber.
Nach Karl Barth schützt die Bürgergemeinde vor Chaos, doch die Christengemeinde hat ein Wächteramt gegenüber dem Staat: Politik ist keine Instanz für Moral, darum muss die Kirche «dort ihre Stimme erheben, wo es ungerecht zugeht» und sich für die Marginalisierten einsetzen.
Christian Schneider legte das Armutsgefälle in der Welt dar. In seinen «Anstössen für politisches Handeln» mahnte er: «Vom Sparen und Reichwerden wird im Evangelium eher gewarnt!» Als Mitgründer des Hilfswerks Onesimo lebte Schneider 13 Jahre in den Slums der philippinischen Metropole Manila – davon neun Jahre mit seiner Familie. Mit einem bescheidenen Jahresbudget von 1,3 Millionen Franken werden dort an 40 Standorten ehrenamtlich therapeutische Gemeinschaften, Drogentherapiestationen, Berufsausbildungen für Jugendliche und Slum-Kirchen betrieben.
Schneider würde die Arbeit gerne auf zehn weitere Städte ausweiten. «Wir reichen Menschen stehen in der Versuchung, aus der Hilfe an die Armen eine ‹Industrie› zu machen», mahnte er. Zu seinem Hilfswerk erklärte Schneider: «Wir zahlen keine Löhne, keine Mieten und unsere effektive und gute Arbeit unten den Ärmsten wird vom Bund – abgesehen von der Steuerbefreiung für Spenden – mit keinem Franken unterstützt.»
Alt Nationalrat Philipp Hadorn (SP / SO) sprach zur Nächstenliebe in der Bundespolitik. Er verwies auf die Rolle der Politikerinnen und Politiker: Sie dürften nicht aus Betroffenheit handeln, sondern sachlich reflektiert. Es gehe um die bestmögliche Lösung, nicht um Ideale. Dennoch: «Beim Politisieren ist die Grundhaltung wichtig.» Hadorn ist froh, dass der Staat einen säkularen Rahmen festlegt und Spielregeln vorgibt, die für alle gelten. «Das stabile politische System ist ein Segen für die Schweiz.»
Der Referent führte politische Themen auf, bei denen Nächstenliebe eine Rolle spielt. In christlichen Kreisen vermisst er die Auseinandersetzung dazu. Als Problematiken christlicher Politik ortete er die Meinungsunterschiede beim Umsetzen der Nächstenliebe, den Vertrauensverlust in den Staat, den Lobbyismus in den Ratssälen, die einseitige Sicht des Wohlstandsevangeliums und das Ausblenden von Randständigen. Einen Hoffnungsansatz sieht er bei der Einheit in der Vielfalt.
Der Austausch nach jedem Referat und Gruppendiskussionen zeigten offene Punkte auf: Was soll der Staat zur Hilfe an die Armen beitragen, was Private? Wie geht man in christlichen Kreisen mit den vielfältigen Sichtweisen auf politische Themen um? Sollen sich Christen in der Schweiz noch als «Evangelikale» bezeichnen, wenn gleichnamige Kreise in den USA und in Brasilien fragwürdige Politiker unterstützen? Wie reagieren, wenn Egoismus oder Angst die politische Debatte dominieren?